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Beitrag "Retentionswirkungen entlang der Elbe"
02.10.2002  
Retentionswirkung von Überflutungsräumen und Poldern entlang der Elbe

Beitrag zum Thema "Retentionswirkungen entlang der Elbe"
Stand: 10.09.02, Autor: Büchele /IWK, Universität Karlsruhe (TH), URL: http://elise.bafg.de/?3960


Unter dem Eindruck des jüngsten
Elbe-Hochwassers 2002 drängt sich die Frage auf, wie Maßnahmen zur Schaffung zusätzlicher Überflutungsräume entlang des Flusses durch Rückverlegung der Deichlinie ins  Hinterland (sog. Deichrückverlegungen) im Hinblick auf den Hochwasserschutz entlang der Elbe zu bewerten sind. Zu dieser Frage der Retentionswirkungen liegen bereits fundierte Ergebnisse aus dem vom BMBF geförderten Forschungsprogramm "Elbe-Ökologie" vor, die im Jahr 2001 fertiggestellt wurden. Die Ergebnisse werden in ihrer Grundaussage eindeutig durch Beobachtungen beim aktuellen Hochwasserereignis bestätigt.


1. Vorliegende Forschungsergebnisse


Das Institut für Wasserwirtschaft und Kulturtechnik (IWK) der Universität Karlsruhe (TH) befasste sich hierbei u.a. mit der hydrologischen Analyse und Simulation der Hochwasserabflüsse des 20. Jahrhunderts im Längsverlauf der Elbe sowie mit der potentiellen Retentionswirkung von Deichrückverlegungen, wobei hier die Wirkung einer möglichen größeren Anzahl von Maßnahmen im Sinne des großräumigen Hochwasserschutzes im Vordergrund stand. Im Rahmen der Analysen wurde z.B. auch untersucht, in welchem Maß sich die im Laufe des 20. Jahrhunderts durchgeführten Maßnahmen (Talsperrenbau im Einzugsgebiet, Retentionsflächenentzug am Gewässerlauf) auf die Hochwasserkennwerte ausgewirkt haben.
Die Forschungsergebnisse wurden Anfang 2002 publiziert und sind unter folgenden Links verfügbar:

  • Teilbericht zur Analyse und Simulation der Abflussprozesse der Elbe im 20. Jahrhundert :
    Kapitel III-1 des Schlussberichtes: PDF-Datei
  • Teilbericht zur Simulation einer möglichen Serie von Deichrückverlegungen :
    Kapitel III-3 des Schlussberichtes: PDF-Datei


2. Beobachtungen beim Elbe-Hochwasser 2002 im Vergleich zu 1.

Betrachtet man den Ablauf des Hochwassers vom August 2002 entlang der Elbe, so lassen sich im Prinzip genau jene Retentionseffekte erkennen, die im Rahmen der o.g. Teiluntersuchung der zur großräumigen Wirkung von potentiellen Deichrückverlegungen aufgezeigt werden. Konkret sind hier die Wirkung der aufgetretenen Deichbrüche im Raum Torgau-Wittenberg-Dessau sowie die kontrollierten Flutungsmaßnahmen im Bereich der Havelmündung anzusprechen.

Retentionseffekt der Deichbrüche

Um den 18. August 2002, als der Wellenscheitel den Elbeabschnitt Torgau – Wittenberg passierte, und in den darauf folgenden Tagen bis in den Raum Dessau, traten mehrere Deichbrüche auf, die durch die Katastrophenhelfer nicht mehr verhindert werden konnten und die zu einer Abminderung der Maximalwasserstände in den flussabwärts gelegenen Gebieten beitrugen (z.B. Dessau, Magdeburg). Bild 1 verdeutlicht am Beispiel einer Satellitenaufnahme der Überflutungen nach einem Deichbruch nördlich von Torgau, dass der Hochwasserwelle in kurzer Zeit erhebliche Wassermengen „verloren“ gingen.



Deichbruch_Torgau-web.jpg  
Bild 1:  Satellitenbild der Überflutungen nach Deichbrüchen nördlich Torgau (Quelle: DLR/Eurimage ).
            (Detailansicht 0,4 MB durch Klick aufs Bild)


Dieser Retentionseffekt der Deichbrüche lässt sich anhand der Entwicklung der Wasserstandsganglinien an den Pegeln Torgau und Wittenberg in Bild 2 verfolgen. Es ist erkennbar, dass der an den Pegeln Dresden und Torgau noch typischerweise rund geformte Wellenscheitel bei Erreichen des Pegels Wittenberg einen deutlichen Knick aufweist, der auf die in der Zwischenstrecke eingetretene abrupte Flutung seitlicher Gebiete zurückzuführen ist. Mehr oder weniger zufällig, allerdings erklärbar durch den hohen Grad der Belastung, fällt der Zeitpunkt der Deichbrüche mit der Scheitelphase in dieser Strecke zusammen, so dass die hierdurch abgebrochene Scheitelentwicklung eine relativ große Entlastung für die Unterlieger erbrachte. Der damit entstandene "neue" Scheitel trat im Vergleich zu dem ohne Deichbrüche eigentlich zu erwartenden Scheitel früher auf, so dass auch flussabwärts z.B. in Magdeburg früher als erwartet die dortigen Maximalwasserstände verzeichnet wurden.

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Bild 2: Entwicklung der Wasserstandsganglinien des Hochwasserereignisses vom August 2002 an den Pegeln Dresden, Torgau und Wittenberg, (Datenquelle: BfG; Stand: 04.09.02; ungeprüft)

Diese aktuellen Beobachtungen decken sich eindeutig mit den in der Studie grundsätzlich aufgezeigten Effekten potenzieller Deichrückverlegungen. Wie in der Übersichtskarte der untersuchten Standorte für Deichrückverlegungen ( Link zum Bericht ) erkennbar ist, wurden unter anderem in dem hier von Deichbrüchen betroffenen Elbeabschnitt sechs Standorte möglicher Deichrückverlegungen mit einer Gesamtfläche von knapp 22 km² untersucht. In der Berechnungsvariante, in der diese Flächen im Sinne des Hochwasserschutzes als gesteuerte Maßnahmen (Polder) betrieben werden, d.h. optimal auf den Wellenscheitel abgestimmt geflutet werden sollen, zeigen sich eben diese Effekte der möglichen „Kappung“ des Scheitels. Auch bereits nur eine größere, exemplarisch ausgewählte Retentionsfläche mit ca. 11 km² zeigte eine solche Wirkung, sofern der Zeitpunkt ihrer Flutung nicht schon in der Anlaufphase des Hochwassers angesetzt wurde. Zum besseren Verständnis der grundsätzlichen Unterschiede zwischen ungesteuerten und gesteuerten Maßnahmen wird an dieser Stelle auf die Darstellung am Beispiel des Hochwassers 1954 ( Link zum Bericht ) verwiesen.

Retentionseffekt der Flutungsmaßnahmen an der Unteren Havel

Die Ergebnisse der Simulationen der Universität Karlsruhe zur möglichen zusätzlichen Wirkung der Polder in der Havelniederung zur Entlastung der Elbe werden durch das aktuelle Ereignis gleichermaßen bestätigt. Durch die Öffnung der Wehres Neuwerben bei Quitzöbel am 20.08. zur Einleitung von Elbewasser in die Havel und die erstmals in ihrer Geschichte erfolgte kontrollierte Flutung von fünf Poldern in der Havelniederung konnten die erwarteten Maximalwasserstände im Raum Wittenberge um 36 cm reduziert werden. Das Ergebnis der Simulationen hatte unter der vorsichtigen Annahme, dass je nach Ereignis bzw. Hochwasseranstieg der Elbe und ungünstigem Eigenwasserandrang der Havel kein zusätzlicher Speicherraum für Elbewasser im eigentlichen Havel-Flussschlauch vorhanden ist, eine vergleichbare Größenordnung ergeben ( Link zum Bericht ).
Die beim Hochwasser 2002 durch die Flutungsmaßmahmen (Havel-Flusschlauch und fünf Polder) erzielte Scheitelabflachung mit Wirkung für die gesamte Untere Mittelelbe bis Geesthacht wird anhand von Bild 3 ersichtlich. Dabei wurde die in Wittenberge kurz nach den Maßnahmen deutlich erkennbare Verformung der Wasserstandsganglinie im weiteren Verlauf bis Neu Darchau durch das relativ träge Abfließen der Unteren Mittelelbe herausgedämpft.

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Bild 3: Entwicklung der Hochwasserereignisses vom August 2002 im Bereich der Unteren Mittelelbe infolge der kontrollierten Flutungen an der Unteren Havel. (Datenquelle: BfG; Stand: 04.09.02; ungeprüft)


3. Diskussion und Ausblick

Auch wenn die dargestellten Pegeldaten quantitativ noch mit Vorsicht zu behandeln sind, da es sich um Wasserstands- und (vorläufig) nicht um Abflussdaten handelt, zeigt das Elbe-Hochwasser 2002 – sowohl unbeabsichtigt durch die Deichbrüche als beabsichtigt durch die Flutungsmaßnahmen – sehr offenkundig die hydrologische Effektivität möglicher Retentionsmaßnahmen im Hinblick auf den Hochwasserschutz im Längsverlauf der Elbe. Diese hydrologische Effektivität, d.h. die raumzeitliche Veränderung der Wassermengen, ist speziell in der Frage der Deichrückverlegungen zu unterscheiden von deren hydraulischer Effektivität, bei der die örtliche Situation der Gewässergeometrie, Rauheiten und Wasserstände zu betrachten ist (z.B. lokale Wasserspiegelabsenkung im Bereich einer Aufweitung des Flussquerschnitts).

Die in der Simulation und nun auch in der Natur gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen zeigen, dass ein effektiver Hochwasserschutz für die Unterlieger am Fluss bei einem solchen Extremereignis nur dann erreicht werden kann, wenn man in der Lage ist, durch eine gezielte (zum richtigen Zeitpunkt kontrolliert durchgeführte) Flutung von Retentionsräumen den Scheitelbereich einer Hochwasserwelle zu beeinflussen. Hierbei können je nach Ereignis bereits 10-20 cm entscheidend sein. Die Konzentration der Flutung auf den Scheitelbereich hat vor allem deshalb eine so zentrale Bedeutung, weil das Retentionsvolumen von Deichrückverlegungsflächen i.a. nur einen Bruchteil (im unteren einstelligen Prozentbereich) der enormen Wassermengen einer großen Hochwasserwelle ausmacht. Viele Flächen erscheinen als zu klein bzw. der Aufwand einer gesteuerten Flutung (Kosten für Bauwerke, Steuerungseinrichtungen etc.) als zu groß im Vergleich zur erzielbaren Wirkung. Bei der Schaffung entsprechend großer Retentionsflächen ist es jedoch aus Hochwasserschutzsicht zu empfehlen, zumindest grundsätzlich eine gesteuerte Flutungsmöglichkeit zu prüfen, um ggf. eine "Hochwasserschutzreserve" für solche Extremereignisse wie das jüngste zu erhalten.

In der Frage der Steuerung der Flutung von Retentionsflächen sind - an der Elbe wie anderswo - Kompromisse zwischen Natur- und Hochwasserschutz notwendig, die auf den beschriebenen Wirkungen aufbauen. Im Einzelfall ist eine Erhöhung des ökologischen Schadenspotentials des Hochwassers durch eine gesteuerte statt einer ungesteuerten Flutung abzuwägen gegenüber der durch die Maßnahme erzielbaren Reduzierung des ökonomischem Schadenspotentials. In diesem Kontext können die am Oberrhein gefundenen Kombinationslösungen als Vorbild möglicher Konzepte an der Elbe dienen: Die dort eingerichteten Polderflächen werden zum Erhalt einer naturnahen Auenlandschaft bei kleineren Hochwasserereignissen durch sogenannte "Ökologische Flutungen" an die Überflutungsdynamik des Flusses angebunden. Kündigt sich dagegen ein extremes Hochwasserereignis mit hohem Schadensrisiko an, so werden die Polder erst bei Eintreffen des Wellenscheitels geflutet.

Was wäre bei dem Ereignis flussabwärts passiert, wenn die Deiche nicht gebrochen und/oder die Polder nicht geflutet worden wären?

In diesem Zusammenhang war die Strategie der Katastrophenhelfer an der Unteren Mittelelbe, zunächst von höheren Scheitelwasserständen auszugehen und die Deiche durch Sandsäcke zu erhöhen, um dann mit zunehmender Dauer die Sandsäcke zur Stabilisierung des Deichfußes zu verwenden, durchaus die Richtige, zumal im Voraus die durch die Havelmaßnahmen zu erwartende Wasserspiegelabsenkung in der Elbe nur näherungsweise berechenbar war. Eine Bewertung des Ereignisses für den künftigen Hochwasserschutz in dieser Region muss sich jedoch an den quasi ungünstigeren Szenarien (keine Deichbrüche, keine Polderflutung) orientieren. Dies führt zur Frage der Jährlichkeit dieses Ereignisses.

Wie ist das aktuelle Ereignis hydrologisch zu bewerten?
Von welchem statistischen Wiederkehrintervall ist unter Berücksichtigung der Retentionseffekte im Längsverlauf auszugehen?

Bevor an einer bestimmten Gewässerstelle von einer bestimmten Jährlichkeit gesprochen werden kann, bedarf es sehr fundierter Analysen, angefangen bei der Rekonstruktion plausibler Abflussmengen an den verschiedenen Pegeln im Längsverlauf, um ein Gesamtbild des Ereignisses zu erhalten. Hierfür liegen mit den im Rahmen des Forschungsprojektes erarbeiteten Instrumentarien (hydrologische und hydraulische Simulationsmodelle für die deutsche Binnenelbe, umfangreiche plausibilisierte Datensätze insbesondere für Hochwasseranalysen, Analyseergebnisse, Regionalisierungsansätze für Abflusskennwerte im Elbe-Längsschnitt etc.) bereits wichtige Grundlagen vor. Die Ergebnisse der bisherigen Forschungsarbeit können und sollten möglichst nutzbringend im Sinne eines überregionalen Hochwasserschutzkonzeptes an der Elbe verwertet werden.